Folge 1 - Die Gedenk–Rede von Martin Michel am Totensonntag 2005
Am alljährlichen Volkstrauertag wird der Kriegsopfer des ersten und zweiten Weltkrieges gedacht.
Martin Michel (23.03.1931 – 03.02.2023), bekannt als “GartenMichel“, hat am Totensonntag 2005, also vor 18 Jahren, auf Bitten von Bürgermeister Schuler die Gedenkrede gehalten. Die Familie Michel hat im zweiten Weltkrieg auf tragische Weise zwei Söhne im Alter von 20 und 16 Jahren verloren. Martin Michel hat als Zeitzeuge die Rede zum Gedenken aller Kriegsopfer gehalten. Diese Rede ist leider wieder sehr aktuell geworden, daher wollen wir sie mit dem Einverständnis von Frau Michel veröffentlichen.
Der Vater von Martin Michel war Pfarrer in Ebhausen
Karl-Friedrich Michel (1885–1972) war von 1941–1949 Pfarrer in Ebhausen. Er hatte sechs Kinder, davon sind zwei Söhne im Krieg gefallen. Er hat beide in Ebhausen beerdigt.
Der Vater war vor seiner Zeit in Ebhausen Pfarrer in Brasilien, dort sind auch seine Kinder geboren. Als diese schulpflichtig wurden, kehrte er nach Deutschland zurück. Er war ab 1934 Pfarrer in Niedernhall (Hohenlohe-Kreis), bevor er nach Ebhausen kam und hier bis zu seinem Ruhestand blieb. 1950/51 siedelte die Familie nach Weilimdorf und später nach Ebingen um, dort starb Karl-Friedrich Michel 1972.
Der Sohn Martin Michel ist nach Ebhausen zurückgekehrt und hat 1958 einen Gartenbau- betrieb gegründet, den er viele Jahre geführt hat. Er ist am 3. Februar in diesem Jahr gestorben.
Die Gedenk–Rede von Martin Michel am Totensonntag 2005
Vor 64 Jahren herrschte Krieg in Deutschland
„Mein Vater, Pfarrer Karl Michel, ließ sich 1941 nach Ebhausen versetzen. Ich war damals zehn Jahre alt.
1941 hat Deutschland Russland überfallen, 1942 hat Amerika in das Kriegsgeschehen eingegriffen. Der Weltkrieg mit all seinen schrecklichen Folgen war dann Wirklichkeit. Fast jede Woche musste mein Vater als Pfarrer und der Bürgermeister die Trauernachricht vom gefallenen Sohn, Bruder, Vater oder vom gefallenen Ehemann den Angehörigen mitteilen.
An vielen Sonntagen war ein Trauergottesdienst für Gefallene in der Kirche. Viele Soldaten wurden als vermisst gemeldet“.
Der Krieg fordert seine Opfer – auch in Ebhausen
„Im direkten Nachbarhaus von uns ist damals der einzige Sohn und Angehörige als Fallschirmjäger auf Kreta gefallen. Im nächste Nachbarhaus sind die zwei Söhne gefallen. Daneben wiederum zwei Söhne. Im nächsten Nachbarhaus ist der Vater von vier Kindern gefallen, schräg gegenüber der Vater von drei kleinen Kindern.
So könnte man den ganzen Ort durchgehen, fast in jedem Haus dasselbe Elend. Alles Männer im besten Alter“.
Pfarrer Michel muss die eigenen Söhne beerdigen
„Es hat auch meine Familie getroffen. Am 30. November 1943 (Anm.: Vor 80 Jahren!) ist mein Bruder Gottfried zwanzigjährig mit dem Flugzeug abgestürzt. Ein Jahr später, am 30. November 1944, genau am selben Tag und zur selben Stunde, ist mein Bruder Ulrich, 16 Jahre alt, als Luftwaffenhelfer gefallen. Meine Brüder sind im Bereich des damaligen Reiches gefallen und wurden deshalb nach Ebhausen überführt und hier beerdigt.
Mein Vater hat die Trauerreden als Pfarrer am Grab seiner Söhne damals gehalten, im sicherlich festen Glauben an das, was er als Pfarrer immer wieder predigte“.
Während der Trauerfeier fliegen Jagdbomber nach Nagold
„Noch während der Trauerfeier für meinen Bruder Ulrich im Dezember 1944 griffen alliierte Jagdbomber vom Kirchberg her das Lazarett in Nagold an. - Es fielen Bomben.
Auf dem hiesigen Friedhof drohte eine Panik auszubrechen. Manche Trauergäste rannten weg. Bürgermeister Mutz, der damals mit anwesend war, rief laut dazu auf, doch bitte Ruhe zu bewahren und stehen zu bleiben“.
Ebhausen liegt in der Fluglinie der Kampfbomber
„Viele Landwirte getrauten sich kaum mehr mit ihren Kuhgespannen auf die Felder zu fahren. Die Luftüberlegenheit der Alliierten war zum Schluss des Krieges so groß, dass tagsüber hunderte Kampfbomber – sogenannte Superfestungen – und Begleitjäger über uns hinweg auf irgendeine Großstadt zuflogen, um sie zu bombardieren. Deutsche Abwehr war nicht mehr zu sehen“.
Folge 2 - Die Gedenk–Rede von Martin Michel am Totensonntag 2005
Der Angriff von Pforzheim ist in Ebhausen hautnah zu spüren
„Eine Nacht ist mir noch besonders in Erinnerung. Meine Angehörigen und einige Nachbarn mit vielen Kindern saßen dicht gedrängt die ganze Nacht im tiefer gelegenen Pfarrhauskeller. Pforzheim wurde angegriffen.
Stundenlanger, lauter Motorenlärm. Hörbare Detonationen bis zu uns nach Ebhausen. Man hatte das Gefühl, Ebhausen selbst wird angegriffen. Der Himmel war von Wart bis Mindersbach rot gefärbt. 17 000 Zivilisten sind in dieser Nacht ums Leben gekommen.“
Anmerkung: Pforzheim war nach Dresden die Stadt mit den meisten Toten bei einem Bombenangriff.
Fliegeralarm war an der Tagesordnung
„Die Fahrten nach Nagold mit dem Fahrrad wurden immer wieder durch Fliegeralarm unterbrochen. Man kehrte nach Ebhausen zurück oder wir saßen etliche Male in Nagold in den Luftschutzkellern nahe der Schulen. Ein ordentlicher Schulbetrieb war nicht mehr möglich, da auch viele Lehrer fehlten.
Soldaten, die auf Heimaturlaub waren sagten:
„Wir dachten, das Sterben findet nur an der Front statt, bei euch in der Heimat ist ja auch das totale Kriegsgeschehen.“
Angriff auf das Altensteigerle
„Ein anderes schlimmes Erlebnis: Es war an einem Sonntagmorgen. Das Altensteigerle, der Zug wurde von 5 -6 feindlichen Jägern mit Bordkanonen angegriffen. Direkt hinter der Kirche rasten die Flugzeuge, vom Killberg kommend, knapp über die Felder Richtung Tal. In der Nähe der Firma Schickhardt fuhr der Zug. Immer wiederkehrend feuerten sie ihre Salven ab. Es war ein unheimlicher Lärm. Bei einem kurzen Blick durchs Fenster konnte ich damals ganz nah die Piloten in ihren Kanzeln sitzen sehen. Damals waren hinter der Kirche noch keine Häuser. Ein Polizist kam dabei ums Leben“.
Fünfzehnjährige Buben sollen das Reich retten
„Am Kriegsende, als die Wehrmacht sich im Auflösen befand, wurde auch in Ebhausen noch der „Volkssturm“ aufgestellt. Mit alten Männern und fünfzehnjährigen Jungen, schlecht ausgebildet, als letztes Aufgebot sollten sie noch eine feindliche Armee mit Panzern und Flugzeugen aufhalten. Mit 14 Jahren war ich – gottlob - damals ein Jahr zu jung. Viele von ihnen kamen noch in französische Gefangenschaft. Vier von Ebhausen sind in der Gefangenschaft gestorben“.
Die Franzosen besetzen Ebhausen
„Beim Einmarsch der Franzosen saßen wir, wie öfters, im Keller. Am 2. und 3. Tag nach dem Einmarsch der Franzosen waren im Pfarrhaus etliche Frauen mehrere Tage, Schutz suchend, untergebracht. Radios, Waffen und andere Dinge mussten abgeliefert werden. Radios kamen ins Pfarrhaus, die ganze Bühne stand voll davon. Die Türe dazu wurde abgeschlossen“.
Hunger und Not prägten die Nachkriegsjahre
„Nach dem Krieg kamen Hunger und weitere entbehrungsreiche Jahre. Sicherlich haben viele der älteren Anwesenden hier Ähnliches in dieser schlimmen Zeit erlebt.
Man musste Ähren lesen, Bucheckern sammeln. Öfters ging man zum Himbeer– und Heidelbeersammeln. Holz, Tannenzapfen und Reisig wurden aus dem Wald geholt zum Heizen, es gab nichts Anderes. Die amtlichen Lebensmittelmarken reichten nicht aus. Hamstern und Tauschen waren üblich. Viele waren unterernährt, es ging ums nackte Überleben. Fast ein ganzes Jahr fiel der Schulunterricht aus. Etwas später kam die Hoover - Speisung als Schulspeisung für die notleidende Jugend“.
Folge 3 - Die Gedenk–Rede von Martin Michel am Totensonntag 2005
Viele Menschen kamen auch bei Flucht und Vertreibung ums Leben
„Beim Volkstrauertag und Totensonntag gedenken wir immer wieder der Gefallen und Vermissten, der toten Zivilisten durch Bombenangriffe. Viele Tote gab es bei Flucht und Vertreibung. Zu erwähnen sind auch die vielen Unschuldigen, die durch das menschenverachtende NS–Regime ums Leben kamen“.
Heldenverehrung
„Zurückblickend, es war 1938, habe ich als siebenjähriges Kind erlebt, wie bei der Gedenkfeier vom 1. Weltkrieg Aufmärsche stattfanden (* s.u.) Das war in Niedernhall, der Pfarrstelle des Vaters nach der Rückkehr aus Brasilien. Es waren Veteranen mit Fahnen, Uniformen und Orden. Vom Heldensonntag und von gefallenen Helden war da die Rede. Ich denke, wir brauchen keine Heldenverehrung und wir wollen sicherlich auch keine unsinnigen Kriege mehr. Ein Volk ist danach zu beurteilen, wie es mit seinen Toten umgeht“.
Gedanken zum Frieden – Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben der Völker
„Wenn Sie mir erlauben, möchte ich zu dem Erzählten und Erlebten von der schlimmen Zeit noch Gedanken aus heutiger Sicht hinzufügen.
Ich bin froh, dass weitsichtige und kluge Politiker in Jahrzehnten nach dem Krieg ein vereinigtes Europa mit vielen friedlichen Staaten zusammengefügt haben. Kriege sind auf unserem Kontinent hoffentlich dadurch nicht mehr möglich!
Als erster Frau wurde 1905 Bertha von Suttner der Friedensnobelpreis zuerkannt. Sie war Schriftstellerin und Pazifistin. Von ihr stammt der Anti-Kriegsroman “Die Waffen nieder“. Sie galt als Mutter der modernen Friedensbewegung und kämpfte gegen den wachsenden Militarismus und Nationalismus in Europa. Am 21.Juni 1914, sieben Tage vor dem Attentat von Sarajevo starb Berta von Suttner 71-jährig als wohl berühmteste Frau ihrer Zeit. Das Erleben des ersten Weltkrieges blieb ihr erspart“.
(Anmerkung: Das Attentat von Sarajevo auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und seiner Frau durch einen nationalistischen Serben am 28. Juni 1914 gilt als Auslöser für den Ersten Weltkrieg.)
„Möge sich der Pazifismus-Gedanke weltweit durchsetzen, dass weltweit keine Kriege mehr stattfinden.
Sechzig Jahre Frieden in Deutschland – eine lange Zeit. Sorgen wir alle dafür, mit Gottes Hilfe, dass es so bleibt!“
Zur Geschichte des Volkstrauertags (Quelle: Internet)
Der Volkstrauertag wurde auf Anregung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) 1919 eingeführt und erstmals 1922 als Gedenktag zu Ehren der Opfer des Ersten Weltkrieges begangen.
1934 bestimmten die nationalsozialistischen Machthaber durch ein Gesetz den Volkstrauertag zum Staatsfeiertag und benannten ihn "Heldengedenktag". Die Träger waren bis 1945 die Wehrmacht und die NSDAP. Die Gedenktage wurden dann zunehmend als Einstimmung auf den geplanten Krieg durchgeführt.
Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde der Volkstrauertag erneut vom Volksbund eingeführt und 1950 erstmals neben vielen regionalen Veranstaltungen mit einer Feierstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages begangen.
Der Volkstrauertag ist zu einem Tag der Mahnung zu Versöhnung, Verständigung und Frieden geworden.
Das Leitwort ist: Versöhnung über den Gräbern - Arbeit für den Frieden.
Das Totengedenken ist dieses Jahr am 26.11.2023 im Anschluss an den Gottesdienst auf dem Friedhof Ebhausen.